von MICHAEL PROCHNOW (vom 22.06.2020 Offenbach Post)
Die Stadt lebt! Das gilt in Obertshausen nicht nur für die Vergangenheit, was der Heimat- und Geschichtsverein auch mit seiner ersten Stadtführung beweist.
Obertshausen – Wöchentlich wollen „Ureinwohner“ und „Eingeplackte“ Interessierten ihre Heimat unter geografischen oder thematischen Aspekten vorstellen. Damit sendet ausgerechnet die kleine Gemeinschaft starke Signale: Nicht jegliches kulturelle Leben muss wegen Corona im Keim erstickt werden. Vieles ist noch immer oder jetzt wieder möglich. Zum Beispiel ein Rundgang durch die einstige Geschäftswelt zwischen Bahnhof und Altem Friedhof. Thomas Zeiger begrüßte gleich zwei Bürgermeister mit Ehefrauen und vier weitere Teilnehmer zur ersten Ausgabe der neuen Serie. Masken mussten sie nicht tragen, sich aber anmelden und Abstand halten. Klaus Scheitler hatte Ausdrucke von alten Fotos der Gebäude dabei, die das Team auf seiner zweistündigen Tour ansteuerte.
Der erhöhte Meininger Platz bot einen guten Ausblick auf den Bahnhof, von dem aus ab dem 1. Oktober 1896 Züge nach Offenbach und nach Reinheim verkehrten. Wegen tödlicher Unfälle mit Pferdefuhrwerken, hatte Zeiger in Erfahrung gebracht, wurden 1914 Schranken installiert. Teilnehmer wussten vom Fahrer einer Rangierlok, der zum Frühstück holen den Übergang schließen ließ. Und vom Schrankenwärter, der so die Polizei aus Heusenstamm ausbremste …
1951 wurde ein Fußgängerüberweg in Höhe des damaligen Sägewerks Becker, der heutigen Maingau Energie, angelegt, 1959 ein Gleisanschluss für die Firma Karl Mayer. 40 Jahre nach dem Beginn der Planungen fuhr am 13. Dezember 2003 die erste S-Bahn die Station Obertshausen an, erinnerte Zeiger. Gegenüber den Bahnsteigen befand sich vor hundert Jahren das erste Obertshausener Freibad, gespeist aus mehreren Thermalquellen, die zudem eine eigene Sprudelfabrik bedienten. Das Bad musste seinen Betrieb bald wiedereinstellen, weil es zu schnell das Wasser verlor, da ein heimisches Bauunternehmen für die Beckenwände Beton mit zu viel Sand vermischt habe.
Stadtführer Zeiger kannte noch all die Kneipen, in der sich die Dorfgesellschaft einst traf – allein vier rund um den Bahnhof, dazu ein Lebensmittelladen an der Ecke zur Lessingstraße. Vor dem Lokal am heutigen Omega-Tunnel hielten einst die Postkutschen, die „Alte Post“ aber befand sich am Eingang der Waldstraße. Das erste Gasthaus und zugleich das älteste Bauwerk, der „Grüne Baum“, stand wohl schon vor dem 30-jährigen Krieg neben dem damaligen St. Nikolaus-Kirchlein auf dem jetzigen Parkplatz, wurde jedoch 1961 auf Betreiben des Pfarrers abgerissen. Denn wer in der „Stätte der Sünde“ den Gerstensaft genoss, kam nicht zur Heiligen Messe.
An der Adresse des Bestatters war ein Metzger tätig, gegenüber dem Gotteshaus und dem früheren Rathaus – dem heutigen Jugendzentrum – war in jedem Gebäude ein Geschäft. Auch die Charaktere der Ladeninhaber seien noch wohlbekannt, plauderte Zeiger aus dem Nähkästchen. Und wie sie sonntags im Mäusesälchen hinterm „Gambrinus“ die Spiele der Kickers verschoben haben, mit feinen Lederwaren und Barem für die Schiedsrichter – behaupten Gerüchte.
Die Kneipe beherbergte ab 1875 bereits das dritte Schulhaus am Waldweg 1. 20 Jahre später errichtete die Gemeinde weitere Räume dahinter. Sie fielen in sich zusammen, als sie zur jüngsten Jahrtausendwende zum Heimatmuseum umgebaut werden sollten. Thomas Zeiger, Lehrer a. D. und Spross namhafter Obertshausener, hat wie mancher Begleiter noch so einige Anekdoten auf Lager, wies vor jedem Grundstück auf ehemalige Betriebe und verwandtschaftliche Bande hin. Das weckte Vorfreude auf die nächsten Rundgänge.