Die Chronik der Stadt Obertshausen
von Fabian Bleisinger
Die beiden Mühlen in Hausen, die dem Ort einst den Beinamen „Zweimühlenort“ einbrachten, sind längst Geschichte und aus dem Stadtbild verschwunden. Während andernorts die Vergangenheit und vor allem das Erbe in Gestalt sanierter historischer Gebäude gepflegt wird, war und ist man in Obertshausen scheinbar weniger zimperlich. So gibt es in beiden Stadtteilen zwar eine erkleckliche Anzahl an Fachwerkgebäuden – jedoch sind viele nicht mehr als solche erkennbar, denn Fachwerk galt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, besonders in den fortschrittsorientierten 1960er Jahren, als gestrig und wurde allzu oft unter einem Putzmantel versteckt und mit modernen Fenstern getarnt. Einige wenige Ausnahmen wie der „Nachtwächter“ im alten Kern von Obertshausen oder am Anfang der Lämmerspieler Straße in Hausen zeugen noch von früheren Zeiten.
Leider verschwinden aber auch heute noch alte Gebäude, die das Ortsbild sehr geprägt haben und noch prägen. Als aktuelles Bespiel wäre hier die seit 10 Jahren leerstehende Friedrich-Fröbel-Schule zu nennen, der vermutlich demnächst der Abriss drohnt.
Umso wertvoller sind für die Mitglieder des Heimat- und Geschichtsvereins Obertshausen e.V. Zeitzeugenberichte, die uns heute noch einen Einblick in vergangene Tage ermöglichen. Einige davon sind in der Chronik der Stadt Obertshausen, die der Verein im Jahr 2018 herausgegeben hat und die im örtlichen Buchhandel sowie im Werkstattmuseum Karl-Mayer-Haus erhältlich ist, veröffentlicht. Ein besonders ausführlicher ist am 25. Juni 1969 in der Ausgabe der Gemeinde-Post Hausen anlässlich der 900-Jahr-Feier des Ortes erschienen. In ihm kommen Einwohnerinnen und Einwohner aus Hausen zu Wort, die die Anfänge des 20. Jahrhunderts im damaligen Zweimühlenort miterlebt haben.
Anna-Maria Schmitz wurde im Jahr 1875 in Hausen geboren und baute 1906 mit ihrem aus Paderborn stammenden Ehemann ein Haus, das sie allerdings später aus finanziellen Gründen aufgrund einer langjährigen Krankheit ihres Mannes wieder verkaufen musste. Geld verdiente die Dame als Portefeuillerin in Heimarbeit. Der Mann starb 1935 und zum Zeitpunkt des Interviews wohnte sie bereits seit 30 Jahren bei Katharina Schwab in der heutigen Kapellenstraße, die die in Not geratene Frau in ihr Haus und in ihre Familie aufnahm – eine auch damals nicht selbstverständliche Nachbarschaftshilfe.
Der zum Zeitpunkt des Interviews 91-jährige Sebastian Picard aus der Friedrich-Ebert-Straße 26 gibt eine Zusammenfassung seiner Biografie wieder, die uns viele Einblicke in das Leben vor dem Zweiten Weltkrieg ermöglicht: „Mein Vater war Schmiedemeister für Hausen und Lämmerspiel. Die Schmiede stand an der Rodau links von der Steinheimer Straße. Als ich noch klein war, gab es nur die Lämmerspieler-, die Steinheimer-, die Herrn- und die Erzbergerstraße (heute Kapellenstraße). Am heutigen Marktplatz war der Ort zu Ende. Ein Feldweg ging bis zum „Neuen Wirtshaus“ hinaus. Als Bub bin ich oft von meinem Vater in den Turm des Kapellchen geschickt worden, weil der Klöppel von der Glocke abgegangen war. Nach der Schulentlassung wurde ich Portefeuiller. Unser Vater hat schon weitergeblickt: er hat keinen von uns Schmied lernen lassen. In schlechten Jahren haben die Bauern sehr wenig Geld eingenommen. Die Leute mussten sich damals alle einschränken, auch beim Essen. Wir hatten uns mit der Armut abgefunden und waren dabei eigentlich zufrieden. Wir hatten nur ein paar hundert Einwohner, aber drei Gesangvereine mit etwa je 70 Sängern. Von der Sängerlust bin ich heute der älteste Sänger, von der Turngesellschaft der einzige noch lebende Gründer. Das Haus, in dem ich jetzt wohne, habe ich 1907 gebaut. Wir haben erst beim Schein der Petroleumlampe gearbeitet. 1907 kam dann das Gas. Als dann der Erste Weltkrieg kam, wurden viele Häuser Heimarbeiter entlassen. Trotz der schweren Zeiten hat mich die Offenbacher Firma Johannes Ohlig behalten. 1936 kam sie dann zu uns ins Haus. Erst mit 76 Jahren habe ich aufgehört zu arbeiten.“
An die Eröffnung der Bahnstrecke und das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert sich die 87-jährige Franziska Komo, die aus Obertshausen stammt. Im Jahr 1969 lebte sie mit vier Generationen ihrer Familie in einem der Hausener Neubaugebiete in der Fichtenstraße 12. „Die Geburtstage ihrer sieben Enkel und 14 Urenkel weiß sie alle auswendig“, heißt es im Text aus der Gemeinde-Post Hausen über die resolute Dame, die als Fan der Offenbacher Kickers alle Spielernamen kennt. Sie erzählt: „1905 habe ich nach Hausen geheiratet. Zuerst wohnten wir bei Fisch-Messer in der Seligenstädter Straße. Alle meine Brüder und mein Mann mussten früher nach Offenbach laufen. Dann fuhr zum ersten Mal die Eisenbahn. Ich weiß es noch genau: da fuhr erst ein Zug, in den die „besseren Herren“ eingeladen waren. 1911 haben wir das Haus Seligenstädter Straße 24 gebaut. Etwas Landwirtschaft mit zwei Kühen und einem Pferd hatten wir auch. Hinter dem Haus lag ein großer Acker und eine Wiese mit Blumen. Vom Fenster aus konnte ich bis zum Sportplatz sehen, der dort lag, wo heute die Firma Kralle steht. Schlimm war es, wenn es Gewitter gegeben hatte. Dann lief das Schmutzwasser die Karlstraße hinunter, und in der Herrnstraße war alles überschwemmt. Nach dem Ersten Weltkrieg habe ich allerhand mitgemacht, und als 1945 die Amerikaner nach Hausen kamen, saßen wir alle im Keller. Von der Tannenmühle waren Schüsse gefallen. Erst später trauten wir uns vor das Tor.“
Als Letzter kommt der damals 86 Jahre alte Servatius Vetter in der Gemeinde-Post zu Wort. Er arbeitete nach 1945 als Ortsdiener und war als „Mann mit der Schelle“ quasi das „amtliche Verkündigungsorgan der Gemeinde“ in Person.
Servatius Vetter, Hausens letzter „Ausscheller“ mit seinem Arbeitsgerät.
Ab 1951 wurde eine Ortsfunkanlage eingerichtet, die mittels Lautsprecherübertragung diese Funktion übernahm. 1967 wurde diese dann durch die Gemeinde-Post abgelöst, das Vorläuferblatt des heutigen Heimatboten. Servatius Vetter erinnert sich an seine Schulzeit: „Wenn wir morgens zur Schule gingen, legten wir erst einmal unsere Schulbrote im Krämerladen neben dem Schützenhof (Anm.: in der heutigen Kapellenstraße) auf den Tisch und ließen uns für zwei Pfennig Marmelade draufschmieren. Nachmittags mussten wir nach den Hausaufgaben noch tüchtig bei der Feldarbeit helfen. Zum Glück gab es im Sommer oft hitzefrei!“ Der gelernte Portfeuiller hatte darüber hinaus noch weitere Aufgaben: „Von 1922 bis 1950 war ich auch Kirchendiener. Dieses Amt hatte auch schon mein Vater. Als Fleischbeschauer hatte ich damals noch viel zu tun, weil die meisten Bauern Hausschlachtungen vornahmen. Dazu kamen die Metzger Mack, Komo, Wilhelm Hofmann, Grimm sowie die Wirtschaften „Zur Krone“ und das „Treppchen“.“