von Michael Prochnow/Offenbach Post vom 6. Januar 2023
Ob sie einen Blonde oder einen Betrügerchen tragen, liegt nicht nur an ihrer Zeit, sondern auch an ihrem Stand. Die kostbare Kleidung mit Säumen in Spitzentechnik war dem Adel vorbehalten. Doch selbst wenn sie im 18. Jahrhundert jeder und jede hätte tragen dürfen, sie wäre für das gemeine Volk unerschwinglich gewesen. Zumindest der Blick auf historische „Kragen, Schals, Tücher – Accessoires im Spiegel der Zeit“ ist kostenlos, die Deutsche Spitzengilde eröffnet heute Abend im Karl-Mayer-Haus ihre Neujahrsausstellung.
Obertshausen – Blonde, das ist ein Hauch von Nichts. Die sogenannte Tambourarbeit ist eine Stickerei aus Tüll, die in einen Rahmen gespannt gefertigt wird. Mit speziellen Hakennadeln werden Konturen auf bestehendes Gewebe aufgetragen, erläutert Anne Urban. Die Vorsitzende der Gilde und sechs weitere Frauen haben mehr als 100 Exponate aus der Zeit von etwa 1750 bis heute aus ihren Sammlungen zusammengestellt.
Etwas später im 18. Jahrhundert kamen die Betrügerchen auf, gestickte Teile für den Ausschnitt, die ein kostbares Hemd andeuten, aber nicht mehr als eine Attrappe sind. Am Hals wurden auch Vorstecker, Schals und Krawatten getragen, die aus Kroatien stammen. Der Name leitet sich von „Horvat“ ab, wie der Kroate in seiner Sprache heißt. Die Soldaten waren an einem kurzen, breiten Schlips zu erkennen.
Die Entwicklung der Kleidungsstücke begann mit einer Art Verlängerungssaum am Kragen. Das dokumentiert die Spitzen-Gruppe heute in einer Video-Präsentation. Ihren Ursprung fand die Technik in Italien und Frankreich, wo die Spitzenmacherinnen sich bald rege austauschten. So eroberte die Mode über das spanische und das englische Königshaus rasch ganz Europa. Während für die Nadelspitze nur Nadel und Faden benötigt wurden, erforderte das Klöppeln spezielle Werkzeuge.
Das Werkstattmuseum zeigt kunstvolle Zeugnisse, die durch Häkeln, Stricken, Klöppeln, Occhi, Filet und andere, oft landestypische Arbeitsweisen entstanden sind.
In Irland mussten die Bräute vor der Hochzeit einen Schal aus der einfadigen Wolle der Schafe von der Insel stricken und den zarten Stoff durch ihren Ehering ziehen. Die Mode brachte die Barbe hervor, ein unter dem Kinn getragenes, in schmale Falten gelegtes Tuch, das zudem wie mit Flügeln Ohren und Hals bedeckt. Das Jabot besteht aus einer Art Fächer von Spitzentüchern, die an einem Männerkragen angebracht werden.
Die Pelerine wird über die Schultern geworfen, der Priester hängt die Stola als Amtszeichen um den Hals, werden die Besucherinnen und Besucher der Vernissage heute Abend lernen. Davon zeigen die Gilde-Damen auch Versionen für Kinder. Aber auch die jungen Trägerinnen und Träger solcher Unikate stammten durchweg aus reichen Bürger-Häusern, betont Anne Urban.
Zwischen 1890 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebte die Spitze eine weitere Blütezeit, informiert die Expertin. Für das neuerliche Aufkommen der kostbaren Textiltechnik mussten ihre Anhänger bis zum Ende des 20. Jahrhunderts warten. Da entwickelte sich in Spanien die Teneriffa- oder Sol-Spitze, benannt nach den runden Schablonen, mit denen individuelle Sonnen-Muster in Schals integriert werden können.
Heute wird wieder gestrickt und geklöppelt, dabei entstehen biedere bis flippige Kragen, Tücher, Halsschmuck und originelle Applikationen für Handtaschen. Beispiele füllen den offenen Ausstellungsraum im ersten Stock und die Vitrinen, ein großer Poncho ist im Saal im Erdgeschoss aufgespannt.
Die Ausstellung „Kragen, Schals, Tücher – Accessoires im Spiegel der Zeit“ ist bis Ostern an jedem zweiten und vierten Sonntag im Monat von 14 bis 17 Uhr im Karl-Mayer-Haus zu sehen oder nach Absprache mit Anne Urban von der Deutschen Spitzengilde, 0170 2627229, spitzengilde.de